Inzest-Opfer Elisabeth Fritzl: "Das ist Gehirnwäsche - Widerstand ist da undenkbar" (2024)

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SPIEGEL ONLINE: Frau Professor Perner, mehr als die Hälfte ihres Daseins hat Elisabeth Fritzl in einem Keller fristen müssen. Sie hat dort, vermutlich auf sich allein gestellt, Kinder gebären und Verantwortung für sie übernehmen müssen. Sie hat überlebt. Lässt das Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit zu?

Perner: Man kann davon ausgehen, dass ihre Widerstandskraft von Beginn des Freiheitsentzuges extrem geschwächt wurde, ebenso wie ihr körperliches Potential. In diesem Zusammenhang von Verantwortung den Kindern gegenüber zu sprechen, halte ich fast für zynisch, denn Menschen in solchen Extremsituationen verlieren ihre sozialen Fähigkeiten. Sie werden "wild", im besten Fall "nur" depressiv. Das belegt die Gefangenschaft von KZ-Häftlingen, die wenigstens einander hatten. Menschen ohne Ansprache werden nach kurzer Zeit psychotisch. Insofern hat die Existenz der Kinder Elisabeth Fritzls Gesundheit gut getan.

SPIEGEL ONLINE: Der lebensbedrohliche Zustand ihrer Tochter Kerstin hat Elisabeth Fritzl letztlich das Leben gerettet, weil das die Ereignisse anstieß, die zur Aufdeckung des Verbrechens führten.

Perner: Das hat er schon davor, denn die Fürsorge um das kranke Kind hat sie dazu motiviert, für die Tochter zu leben. Die Erfahrung zeigt: Menschen nehmen das Martyrium klaglos auf sich und erst, wenn sie sehen, dass es jemandem noch dreckiger geht, wehren sie sich.

SPIEGEL ONLINE: Welche Beziehung musste Elisabeth zu ihrem Peiniger in all den Jahren aufbauen, um zu überleben?

Perner: Die Beziehung hat sie nicht aufgebaut, sie wurde ihr aufgedrängt. Sie hatte keine Wahl. Ihre Persönlichkeitsstruktur scheint eine komplett andere zu sein als die der Natascha Kampusch, die viel Kraft entwickelt hat, um zu wissen, wie sie mit ihrem "Kerkermeister" umzugehen hat. Aber in diesem Fall war ihr Peiniger ein Fremder, da fällt es oft leichter. Bei Elisabeth Fritzl war der Täter der eigene Vater. Dadurch relativiert sich das Opfer-Sein: "Bin ich Opfer oder bin ich schlimm?"

SPIEGEL ONLINE: Inwieweit spielt die Größe des Verlieses eine Rolle?

Perner: Sie verstärkt die Angst. In Räumen, die sehr hoch sind, fühlen wir uns sehr klein. In kleinen Zimmern entsprechend mickrig, gefesselt. Ein despotischer Kerkermeister kann dadurch die Aktivität seines Opfers unterbinden und seine Macht verstärken. Ein Glück war es, dass sie einen Fernseher und ein Radio hatte.

SPIEGEL ONLINE: Elisabeth Fritzl wurde bereits als Kind und noch in Freiheit lebend von ihrem Vater missbraucht. Zweimal soll sie versucht haben, zu fliehen, kam aber beide Male zurück. Warum?

Perner: Wir wissen nicht, ob sie freiwillig zurückkam. Misshandelte Menschen kommen zurück, weil sie keine Alternative haben. Gerade Kinder und Jugendliche schonen ihre Eltern. Wenn sie sich entscheiden müssen, ob der Vater "gut" oder "böse" ist, entscheiden sie sich immer für "gut". Ich arbeite seit mehr als 40 Jahren in meinem Beruf und kann sagen: Ich kenne so viele Frauen, die nicht ihre Beziehung zu ihrem schlagenden Mann beenden. Sie hoffen, wenn sie sich ducken, wird alles wieder gut. Und Kinder, die die Kraft haben, sich zu wehren, landen im Heim für Schwererziehbare. Sie werden als "schreckliche Kinder" verurteilt - aber man vergisst oft: Hinter ihnen stecken "schreckliche Eltern".

SPIEGEL ONLINE: Warum hat Elisabeth Fritzl nach jetzigem Wissensstand in den 24 Jahren ihrer Gefangenschaft nicht versucht, sich zu wehren, auszubrechen?

Perner: Sie konnte sich wohl aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihres Denkvermögens nicht wehren. Despoten wie Josef Fritzl wollen nur ihren Willen durchsetzen und dass man nur nach ihrer Denkweise funktioniert: Das ist Gehirnwäsche. Und die erfolgt in Phasen: Zuerst bettelt sie um Gnade, er bestraft sie noch mehr und droht ihr. Dadurch bricht er ihre Widerstandskraft, die in dem Alter, als sie eingesperrt war, ebenso wenig abschließend ausgebildet war wie ihr körperlicher, seelischer und geistiger Zustand. Ein Widerstand ist da undenkbar.

SPIEGEL ONLINE: Und von Seiten der beiden erwachsenen Kinder, die mit eingesperrt waren?

Perner: Ich vermute, Elisabeth Fritzl wird ihnen eine Erklärung gegeben haben, warum das Leben im Fernseher ein anderes ist als ihres. Aber sie wird ihnen keine nähere Information oder gar die Wahrheit gegeben haben, weil die sonst zur Rebellion geführt hätte.

SPIEGEL ONLINE: Dann hat sie ihre Kinder vermutlich dazu erzogen, Josef Fritzl ebenso unterwürfig und devot gegenüber zu treten?

Perner: Davon kann man ausgehen - wir lernen von unseren Bezugspersonen. Wir wissen nicht, ob Fritzl nur als großer Essenspender auftauchte und sich ab und zu mit ihrer Mutter zurückzog. Aus meiner Erfahrung identifizierten sie sich entweder mit der Mutter, mit dem "Kerkermeister" oder dem, was sie im Fernsehen gesehen haben.

SPIEGEL ONLINE: Verwandte erzählen, dass Fritzl auch seine Ehefrau Rosemarie beherrscht und unterdrückt habe. Hätte er auch die Ehefrau zu seiner Sklavin machen können?

Perner: Theoretisch ja. Viele Männer sperren ihre Frauen ein. Doch in dem Fall war es noch einfacher, sich einen Menschen gefügig zu machen, den man seit dem elften Lebensjahr missbrauchte.

SPIEGEL ONLINE: Elisabeth Fritzl soll im Gespräch mit der Polizei gesagt haben: "Ich weiß nicht, warum sich mein Vater mich ausgesucht hat." Ist die Wahl des Täters zu erklären?

"Der übersteigerte Sexualtrieb ist ein Mythos"

Perner: Täter suchen sich ihre Opfer nach dem geringsten Widerstand aus. Auch der Fremde liest zunächst die Körpersprache - und schlägt dann zu. Gebundene Männer haben oft ein Doppelleben, aber üblicherweise mit einer Partnerin von außen. Josef Fritzl hat die Gelegenheit ausgenutzt, sich aus der eigenen Familie seine Sklavin zu schaffen.

SPIEGEL ONLINE: Elisabeth Fritzl soll sich den Ermittlern erst anvertraut haben, nachdem ihr versichert wurde, sie werde mit ihrem Vater nie wieder konfrontiert werden. Was kann man daraus schließen?

Perner: Daran merkt man, welch massive Angst er bei ihr auslöste. Es gibt Menschen, die eine ganz besondere Ausstrahlung, bestimmte körperliche Merkmale haben - zum Beispiel einen starren, kalten Blick. Wichtig ist, wie erfahren und selbstsicher man ist, um sich von solchen Signalen nicht verunsichern zu lassen.

SPIEGEL ONLINE: Im Fall Josef Fritzl kommt dazu, was ein Ermittler als "übersteigerten Sexualtrieb" bezeichnete.

Perner: Das ist ein Mythos. Einen "übersteigerten Sexualtrieb" gibt es nicht. Das sind Männer, die sich nicht beherrschen können und wollen. Als Psychoanalytikerin sehe ich den Verdacht auf eine psychische Erkrankung. Psychiater sehen das wieder anders. Aber grundsätzlich gilt: Hunger ist der stärkste Trieb beim Menschen, viel stärker als der sexuelle. Bei Menschen wie Josef Fritzl reicht es schon, sich mächtig zu fühlen - das steigert ihre Potenz.

SPIEGEL ONLINE: Es heißt, Elisabeths Mutter Rosemarie soll von dem Doppelleben ihres Mannes nichts gewusst haben - auch nicht von dem Missbrauch Elisabeths als Kind. Experten schätzen, mehr als 80 Prozent der Mütter, deren Kinder missbraucht werden, ahnen es unbewusst; wollen den Inzest jedoch nicht wahrhaben. Warum greifen sie nicht ein?

Perner: Weil sie dazu einfach nicht in der Lage sind: Die Angstreaktion ist zu groß. Diese Mütter sind hilflos, sich gegen ihre Männer durchzusetzen. Sie haben zum Teil Angst und wissen nicht, wie sie das selbst unbeschadet überstehen sollten. Dazu kommt, dass die Kinder meinen, dass sie Unruhe säen zwischen den Eltern. Sie opfern sich, indem sie der Mutter signalisieren, es sei alles in Ordnung.

SPIEGEL ONLINE: Josef Fritzl wurde wegen Vergewaltigung verurteilt, als Rosemarie Fritzl bereits vier Kinder mit ihm hatte. Hätte sie nicht spätestens durch seine sexuellen Wünsche stutzig werden müssen?

Perner: Das gibt es häufig. Aber eine Frau, die keinen Beruf erlernt und vier Kinder hat, die sieht keinen Sinn, wegzugehen. Auch, weil sie sagen müsste, warum sie geht. Das hat auch viel mit Scham zu tun.

SPIEGEL ONLINE: Von Seiten der Polizei heißt es, das Verhältnis zwischen Elisabeth Fritzl und ihrer Mutter Rosemarie sei "sehr herzlich": Ist diese Bindung gefährdet, wenn Elisabeth Fritzl mit der Verarbeitung des Erlebten beginnt?

Perner: Den Ausdruck "herzlich" bewerte ich sehr kritisch. Die derzeitigen Reaktionen sollten als vorübergehend betrachtet werden. Die echten kommen zeitverzögert. Für die Mutter Rosemarie ist es eine große Erleichterung, dass ihre Tochter Elisabeth lebt und wieder da ist. Ebenso ergeht es der Tochter, die ebenfalls nach Jahren ihre anderen drei Kinder wieder bei sich hat. Dass sie in dieser Krisensituation alle zusammenrücken, ist ganz normal. Von einer Bindung würde ich deshalb nicht sprechen. Worauf sollte sich die gründen? Maximal auf das gleiche Leiden unter ein und demselben Mann. Man muss damit rechnen, dass nach der Phase der Bewältigung von Krisenerlebnissen die große Abgestumpftheit kommt - und danach die Rachephase, die sicher die Mutter trifft.

SPIEGEL ONLINE: Drei ihrer Kinder hat Elisabeth Fritzl jahrelang nicht gesehen. Sind sie sich nun fremd?

Perner: Sie musste betrauern, dass ihr die Kinder weggenommen wurden. Wir wissen nicht, ob die Begründung stimmt, dass Fritzl sie wahllos getrennt hat. In jedem Fall war es eine weitere Strafe für Elisabeth und eine harte Disziplinierungsmaßnahme. Alle müssen sich ein komplett neues Leben aufbauen, denn ihr bisheriges war eine große, schreckliche Lüge.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind auch Juristin. Wie bewerten Sie diesen Kriminalfall?

Perner: Strafrechtlich wird man - meiner Ansicht nach auf EU-Basis - den Entzug auf Tageslicht für eine so lange Zeit neu definieren müssen, denn Freiheitsentzug ist in diesem Fall zu vage. Was die Vergewaltigung von 1967 angeht - auf juristischer Ebene ist Fritzl voll resozialisiert.

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